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INTERVIEW «Mit sich im Reinen sein»

INTERVIEW 
Kulturjournalistin Monika Kühne sprach für uns mit dem TAK-Musikdramaturgen Martin Wettstein, der auch selbst konzertiert und am Konservatorium Zürich und an der Zürcher Hochschule der Künste unterrichtet.

Lesedauer: 6 Minuten.

Donnerstag, 05.10.23

Martha Argerich ist eine der grössten Klaviervirtuosinnen. Wer das Glück hat, einem Konzert der heute 82-jährigen Künstlerin beizuwohnen, der erlebt eine scheinbar in sich ruhende, souveräne Meisterin der Tasten. Doch seit Beginn ihrer Karriere plagt sie Auftrittsangst, mitunter Panik. Der Dokumentarfilm Bloody Daughter, den ihre Tochter Stéphanie Argerich gedreht hat, zeigt auf sensible Weise Momente, in denen die weltberühmte Mutter ohne den seelischen Beistand der Töchter nicht spielen mag, die klagt: «Ich werde traurig, depressiv, ich kann mein Leben gar nicht mehr geniessen. Ich lache nicht genug.» Nach dem Auftritt sieht man sie entspannt und glücklich mit ihren Bewunderern. 

Auch Kenny Barron – berühmt und bewundert als Bandmitglied zahlreicher Jazz-Grössen – verspürt als Solist grosse Selbstzweifel: «Solo-Konzerte waren immer schon beängstigend für mich», sagt er. Er beschreibt den Zweifel als wesentliches Element des menschlichen Seins, den es ernst zu nehmen gilt und dem er sich immer wieder bewusst auszusetzt: «The only way to deal with it is to deal with it, you know! ... The only way to stop worrying about it is to face it all the time. Just tell the story, whatever it is.»

Klassikstars in Vaduz

Herr Wettstein, Sie sind Musiker, freischaffender Komponist, unterrichten an der Musikschule Konservatorium Zürich sowie an der Zürcher Hochschule der Künste ZHdK. Seit 16 Jahren arbeiten Sie als Konzertdramaturg für das TAK. Wer waren 2007 die ersten Künstler, die Sie nach Vaduz geholt haben?
Martin Wettstein: Für das Konzert zum Auftakt der Saison 2007 konnte ich Martha Argerich, Charles Dutoit und das Russische Nationalorchester gewinnen. Argerich könnte überall auf der Welt spielen, dass sie jetzt in 2023 bereits zum dritten Mal in Vaduz auftritt, zeigt, dass sie sich hier offenbar wohlfühlt.

Was trägt ihrer Meinung nach zu diesem Wohlfühlen der Klassikstars in Vaduz bei?
Martin Wettstein: Das Besondere an Vaduz ist eindeutig das Publikum, es ist interessiert und offen, das merke ich auch bei den Einführungen. Dieses grosse Interesse, das spüren die Musiker auf der Bühne, auch wenn der rote Faden einmal abbricht. Wir können im TAK auf ein tolles organisatorisches Team zurückgreifen, es herrscht eine gute Stimmung. Die Künstler werden bestens betreut und die Pläne und Abläufe funktionieren perfekt. Das betrifft auch die Technik. Hier spürt man, dass sie vom Theater kommen und mit allen Wassern gewaschen sind.

Wenn Sie die Technik ansprechen, erinnern Sie sich an Pannen und die Reaktionen der betroffenen Künstler?
Martin Wettstein: Als schönstes Beispiel fällt mir Klaus Maria Brandauer und das Kammerorchester Basel ein. Es war ein sehr heisser Abend und während der Aufführung von Shakespeares Sommernachtstraum gab es im fensterlosen Vaduzer-Saal einen Stromausfall. Das Kammerorchester Basel hat auf der Bühne im völligen Dunkeln einfach weitergespielt. 

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Das Besondere an Vaduz ist eindeutig das Publikum, es ist interessiert und offen, das merke ich auch bei den Einführungen.
Martin Wettstein

Auf den Spuren des Flow

Lassen Sie uns einen Blick hinter die Kulissen werfen, wie erleben Sie die Künstler vor deren Auftritten?
Martin Wettstein: Es ist eindrücklich. Grösstenteils sind die Musiker, – Solisten, Orchestermusiker und Dirigenten – vor den Konzerten in Vaduz cool, sehr fokussiert und professionell. Während sich die einen Künstler in den Garderoben lachend unterhalten, ziehen sich andere zurück. Sie meditieren oder schlafen auf der Couch, wenn nicht sogar auf dem Boden. Andere geben Interviews in den Einführungen und gehen anschliessend nochmals ihre Partien durch. Der Organist Cameron Carpenter hat sich sogar mit Klimmzügen aufgewärmt, das habe ich vorher noch nie erlebt. Selbst wenn die Musiker unter Beschwerden wie Migräne, Bauchweh oder gar Fieber litten, hat man es dann auf der Bühne nie gemerkt. Die Künstler haben ihre mentalen Reserven.

Sind Ihnen auch Künstler bekannt, die so starke Nerven haben, dass ihnen Lampenfieber fremd ist?
Martin Wettstein: Da fällt mir folgende Anekdote ein: Die Stargeigerin Anne-Sophie Mutter spielte mit 14 Jahren das erste Mal bei den Salzburger Festspielen. Auf die Frage des Dirigenten Herbert von Karajan, ob sie nervös sei, habe sie geantwortet: «Nervös, nein, wieso?»

Das Beste, um an dein Übel nicht zu denken, ist Beschäftigung.
Ludwig van Beethoven

Das richtige Mindset

Wie lässt sich das mit dem ansteigenden Lampenfieber einhergehende Denken unter Kontrolle bringen?
Martin Wettstein: Man kann sich das wie bei einem Piloten vorstellen, der so gut trainiert ist, dass er selbst bei einem Triebwerksausfall automatisch weiss, was zu tun ist. Oder wenn wir schreiben, da denken wir auch nicht über die einzelnen Buchstaben nach. Ludwig van Beethoven meinte: «Das Beste, um an dein Übel nicht zu denken, ist Beschäftigung.» Carl Maria von Weber hat am Morgen vor der Uraufführung seines «Freischütz» zur Ablenkung noch ein Klavierkonzert komponiert.

Welche Strategien geben Sie als Pädagoge angehenden Musikern als Handreichung mit?
Martin Wettstein: Es ist wie im Spitzensport, auch Musiker müssen sich die Reserven hart erarbeiten, dazu gehören die technischen Übungen am Instrument. Es geht nicht um die Länge an sich, sondern dass es zur Gewohnheit wird. Selbst die längst arrivierte Violinistin Julia Fischer erzählte in einer Einführung, dass sie täglich Tonleitern übe. Dazu kommt die Routine des Auftretens vor Publikum. Bereits Kinder spielen in Orchestern mit und nehmen an Wettbewerben teil.

Selbst die längst arrivierte Violinistin Julia Fischer erzählte in einer Einführung, dass sie täglich Tonleitern übe.
Martin Wettstein

Intensität und Vertrauen

Wie viel Lampenfieber braucht es und ist es überhaupt nötig, um intensiv spielen zu können?
Martin Wettstein: Es gibt zwei Arten von Nervosität. Bei er guten ist man aktiviert wie auf einer Jagd. Bei der schlechten, wenn man Angst hat, wirkt sich das negativ auf das Spiel aus. Ist man zu cool, dann spielt man auch nicht gut. Wenn die Generalprobe gut war, besteht die Gefahr, dass man zu locker in die Premiere geht, auch dessen muss man sich immer bewusst sein und darauf reagieren.

Gab es in den 16 Jahren Ihrer Tätigkeit Absagen von Künstlern, weil diese unter grossem psychischen Druck gestanden sind?
Martin Wettstein: Einmal beinahe. Fazil Say, der türkische Pianist und Komponist, hatte als Islamkritiker massive Angst, am 14.11.2015 in Vaduz aufzutreten. Das Konzert fand einen Tag nach den verheerenden IS-Anschlägen in Paris statt.

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